40 Texte aus 40 Jahren: 1987: Hausmitteilung

Liebe Leserinnen (Männer sind natürlich mitgemeint) - es wird ernst. In dieser Woche probiert die WoZ - nicht den Aufstand, aber die «Totale Feminisie­rung» der Sprache, wie sie von vielen Frauen mündlich schon lange praktiziert wird. Bisher hatte die WoZ nur das «schwerfällige» Splitting (Typ Leserinnen und Leser) zu bieten oder das steilaufragende I mitten im Wort - eine Schweizer Erfindung, die auch in der BRD immer mehr Änklang findet: LeserInnen. Diese Lösungen, so dringend notwendig sie sind, damit auch Frauen in der soge­nannten Muttersprache «zur Sprache kommen», werden von vielen abgelehnt: «Unbequem, lästig, hässlich, manieriert! Wie soll man(n) das grosse I mitten im Wort überhaupt aussprechen? Viel zu lang, immer diese Autofahrerinnen und Autofahrer

Mit dieser Not hat es nun ein Ende - jedenfalls in dieser Nummer. Die WoZ hat sich heroinisch zur durchgehenden Benutzung des «umfassenden Femininums» durchgerungen: Das schöne lange Femininum ist die Grundform, das Maskulinum die Schwundform. Wenn wir von der Grundform, etwa Arbeiterinnen, etwas wegnehmen, erscheint die Schwundform: Arbeiter! (Biolinguistinnen verweisen gern auf die strukturelle Ähnlichkeit solcher Wortpaare mit dem weiblichen X- und dem männlichen Y-Chromosom).

Das Femininum wird also in dieser Nummer ganz genau so benutzt wie sonst das Maskulinum. Wenn von Politikerinnen oder Griechinnen die Rede ist, sind die Männer mitgemeint, so wie sich sonst Frauen bei die Politiker, die Griechen mitgemeint fühlen sollen. Es heisst Die Chefin ist ein Mann / Herr Bäsli. denn sonst heisst es ja auch Unser Chef ist eine Frau / Frau Vetterli. In der Männer­sprache Deutsch, die wir überwinden helfen wollen, gibt es auch weibliche Stadträte. In dieser Nummer heissen solche seltenen Erscheinungen weibliche Stadträtinnen, und ihre männlichen Kolleginnen sind eben männliche Stadträtinnen.

Keine Angst: Ganz abgesch(I)afft ist das Maskulinum nicht, so wie ja in der Männersprache auch das Femininum sein Schattendasein fristet. Es dient dort bekanntlich zur Bezeichnung von «reinen Damenkränzchen» und weiblichen Einzelpersonen niederen bis mittleren Rangs. Genauso wird jetzt das Maskulin­ um für reine Herrenkränzchen sowie männliche Einzelpersonen eingesetzt: Un­sere Priester / Als Kritiker verdient er nicht viel (aber: Er ist ihre schärfste Kriti­kerin / Herr Doktorin Müller).

Wenigstens einmal soll das männliche Geschlecht ausführlich Gelegenheit zum Einfühlungstraining haben. Damit sie kapieren, was es bedeutet, nie zu wissen, ob mann überhaupt gemeint ist, was es bedeutet, dem anderen Ge­schlecht zugezählt zu werden - diesen ständigen Identitätsverlust hinzunehmen. Wenigstens einmal sollen weibliche Leserinnen das Gefühl eines weiblichen Universums bekommen - - -

Anmerkung der Redaktion:
Vom vorliegenden Experiment sind Inserateteil und Leserinnenbriefe sowie – aus produktionstechnischen Gründen – die Zentralamerikabeilage ausgenommen. Die Hinweise und Anmerkungen von Flückiger und Pusch sind durchwegs halbfett in eckigen Klammern [] eingefügt oder dem jeweiligen Artikel angehängt. In der nächsten WoZ wollen wir versuchen, das Experiment kritisch zu bilanzieren. Reaktionen aus dem WoZ-Publikum sind erwünscht.

Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 37 vom 11. September 1987 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.