40 Texte aus 40 Jahren: 1996: Einen armen Staat können sich nur die ganz Reichen leisten: Die Macht der öffentlichen Dienste

Zu Beginn dieser Woche war sich Portugals sozialistischer Ministerpräsident António Guterres ganz sicher. Das Land werde schon im ersten Anlauf den Beitritt zur Europäischen Währungsunion schaffen, koste es, was es wolle. Es wird einen weiteren Abbau der öffentlichen Dienstleistungen kosten. Ebenfalls Anfang der Woche hat Finnlands sozialdemokratischer Regierungschef Paavo Lipponen nur schulterzuckend auf die Ohrfeige reagiert, die ihm bei den Wahlen zum Europa-Parlament verpasst worden war: Im ehemaligen Musterland sind die Schlangen vor den Suppenküchen der Heilsarmee in dem Masse gewachsen, wie der öffentliche Dienst zugunsten von Steuererleichterungen abgebaut wurde. So soll’s weitergehen. Und hierzulande hat die sozialdemokratische Bundesrätin Ruth Dreifuss aus der Defensive heraus zu verstehen gegeben, dass eine Lohnkürzung bei der SBB dann in Ordnung sei, wenn sie von den Beschäftigten selber angeboten werde.

Überall steht der öffentliche Dienst zur Disposition, überall will das Bürgertum wichtige Bereiche des Staates zerschlagen oder beschlagnahmen. Die wahren Staatsfeinde, so sieht es aus, kommen nicht aus der linken, sondern aus der neoliberalen Ecke: Plötzlich schafft die Bourgeoisie wesentliche Teile ihrer wichtigsten Herrschaftsagentur ab. Und da sollen wir auf die Strasse gehen? Ist das etwa unser Staat? Hatte die Linke nicht ebenso vehement den Staat bekämpft, und zwar mit einleuchtenden Gründen? Und was ist mit dem Sozialstaat? Hält der nicht für jene, die auf ihn angewiesen sind, zuallererst eine ganze Reihe von Demütigungen bereit? Müssen sich Hilfesuchende nicht erst von SozialamtsoffizierInnen schurigeln lassen, bevor sie feststellen, dass die «soziale Hängematte» hauptsächlich aus Löchern besteht? Diesen Fürsorgestaat der Patrons sollen wir nun verteidigen? Natürlich nicht.

Und dann die oft missmutigen, unfreundlichen, nur auf Formulare und Anweisungen pochenden BeamtInnen, die selber buckeln, nach aussen aber autoritär reglementieren und nur allzugern erkennen lassen, wer dem Staat zu dienen hat: sie jedenfalls nicht. Alle Grossunternehmen sind mit solchen Figuren ausgestattet, bei Staatsbetrieben wie Post und Eisenbahn fällt das gebieterische Gebaren jedoch auf, da es sich (erstens) um öffentliche

Dienste im Wortsinn handelt und (zweitens) alle wissen, wer die da zahlt: nämlich alle. Für diese Beamtenärsche gehe er jedenfalls nicht auf die Strasse, sagte ein Freund, von dem ich solche Töne nicht gewohnt bin. Die Ablehnung reicht offensichtlich tief. Und verwundert auch nicht weiter. Mit der Verstaatlichung, die in der Geschichte der revolutionären Bewegungen immer wieder gefordert worden war, sollten ja nicht solch straff bürokratisierte und zentralistisch organisierte Hierarchien geschaffen werden, wie sie im Osten flächendeckend und im Westen unter der Ägide konservativer wie sozial demokratischer Regierungen entstanden waren. Was kann eine Verstaatlichung schon bringen, die nicht mit einer Demokratisierung, also auch einer wirklichen Ermächtigung der Beschäftigten einhergeht? Staatliche Hoheitsträger sind draus geworden, die sich entsprechend benehmen. Und für die sollen wir demonstrieren? Natürlich nicht.

Und doch: Der Staat ist nicht nur ein repressives Instrument der Herrschenden, nicht nur eine Kombination aus Armee, die (siehe letzte WoZ) für den inneren Einsatz gerüstet ist, aus Staatsschutz, Politessen und schikanöser Fürsorgebürokratie. Der Staat verkörpert auch – so wie er jetzt konstruiert ist – eine Vorstellung von Gesellschaft, ja sogar von Solidarität. Vor einigen Jahrzehnten gab es in der Sozialdemokratie, die heute so scheinbar mühelos einknickt, ein wahres Wort. Nur die ganz Reichen können sich einen armen Staat leisten, hiess es damals. In jenen Zeiten des nationalen Wirtschaftswachstums galt den SozialdemokratInnen der Staat als Vehikel des Fortschritts. Nur über ihn sei eine Umformung der Gesellschaft möglich, dachten sie (und hatten deswegen auch ein weitgehend ungebrochenes Verhältnis zu seinen repressiven Seiten). Das war auch die Zeit der Massenproduktion, für die die Menschen in den hintersten Tälern und den entlegensten Regionen gebraucht wurden. Sie sollten kommunizieren und reisen können, Post und Bahn sorgten für erschwingliche Tarife. Das freilich hat sich verändert. Wenn die Schätzungen auch nur in etwa zutreffen, wonach im nächsten Jahrhundert zwanzig Prozent der Erwerbsfähigen zur Produktion aller Waren ausreichen, werden immer mehr Menschen an den Rand gedrängt, werden immer grössere Teile der Bevölkerung überflüssig. Die muss man nicht mehr hin- und hertransportieren, die brauchen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, für die reicht ein Ausbau der Polizei und der Gefängnisse – in Britannien und den USA sind dies die einzigen staatlichen Wachstumsbereiche.

Noch ist Zeit, die Entwicklung zum reinen Polizeistaat zu stoppen. Der öffentliche Dienst – das zeigt das britische Beispiel – ist auch ein Stück Demokratie. So lange sich Müllabfuhr und Eisenbahn, Feuerwehr und Schulen, Wasserwerke und Krankenhäuser, Nahverkehr und Strassenreinigung in öffentlicher Hand befinden, besteht nicht nur theoretisch die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen auf die Ausgestaltung und den Umfang der Dienstleistungen. Das ist bei einem Privatunternehmen nicht mehr der Fall. Da entscheidet nur noch der Markt, nur noch die Kundschaft. Aber nicht alle BürgerInnen sind auch gleich gute KundInnen, nicht alle Belange monetarisierbar.

Sicher, auch heute schon werden viele Gemeinden wie Unternehmen geführt (nicht nur Gemeinden: der letzte sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler meinte einmal, er komme sich vor wie der Vorstandsvorsitzende der Deutschland AG); das ist eine gefährliche Entwicklung. Wer den öffentlichen Dienst tatsächlich verteidigen will, muss ihn also ändern, öffnen, demokratisieren.

Und natürlich für ihn demonstrieren, mindestens. Die Erfolgsaussichten sind so schlecht nicht. Proteste erreichen die Verantwortlichen des öffentlichen Dienstes schneller als etwa die Direktorenschaft eines wo auch immer ansässigen Multis. Auf öffentlichen Widerstand reagieren selbst abgebrühte Privatisierer wie die englischen Tories recht empfindlich. Die deutsche Bundesregierung sitzt fest im Sattel, und doch fürchtete sie den Konflikt mit den Gewerkschaften um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Diese Vorsicht kommt nicht von ungefähr. Der öffentliche Dienst ist in ganz Westeuropa noch so bedeutsam, dass auch der wortgewaltigste neoliberale Banken- oder Firmenchef nicht auf ihn verzichten kann. Das schnelle Geld, der hohe Profit sind nur zu erzielen, wenn alles wie am Schnürchen läuft. Trotz weitgehender Deregulierung, trotz vieler Ausweichmöglichkeiten reagierten etwa die britischen Unternehmen äusserst gereizt, als die Postbediensteten im Sommer eine Serie von Tagesstreiks hinlegten. Auch hierzulande sind Bankiers, Fabrikantinnen, Aktionäre und Spekulantinnen hinter dem schnellen Geld her. Sie wären womöglich schmerzlich berührt, wenn sie statt ihrer Geschäftspost einmal Flugblätter im Briefkasten vorfänden, welche über die Folgen des Abbaus der öffentlichen Dienstleistungen informieren. Der Bevölkerung hingegen würde das gefallen; ihr wird ohnehin zu wenig erzählt. Auch die BahnkundInnen hätten sicher nichts dagegen, wenn BähnlerInnen mal Handzettel verteilen würden statt Billets zu lochen. Auf diesen Zetteln könnte stehen, weshalb auch Streiks nötig werden könnten – im öffentlichen Interesse. Arbeitsniederlegungen der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes waren in den europäischen Nachbarländern immer überraschend populär, obwohl sie auch die Bevölkerung trafen. Aber die wusste, worum es ging.

Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 43 vom 25. Oktober 1996 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.