Palästina nach Arafat: Machtkampf mit oder ohne Waffen

Anfang Januar schon soll in Palästina ein neuer Präsident gewählt werden. Wird er auch der neue starke Mann?

Der König ist tot, es lebe der König? Nein, so lief der lange gefürchtete Machtwechsel nach dem Tode Jassir Arafats nicht ab. Statt eines neuen Machthabers, statt mehrerer neuer Machthaber schien zunächst die Stunde der Institutionen gekommen. In allen relevanten Institutionen rückten die vorgesehenen Nachfolger an die durch Arafats Tod frei gewordene Führungsposition: Mahmud Abbas übernahm die Führung der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, Ahmed Kureia konnte die Macht des palästinensischen Ministerpräsidenten ausbauen, indem er die Kontrolle der diversen Sicherheitsorgane übernahm, und der Präsident des palästinensischen Legislativrates, Rauhi Fattuh, wurde zum Übergangspräsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörden bis zur im Gesetz vorgesehenen Neuwahl.

Inzwischen konzentrieren sich die politischen Diskussionen in Palästina auf die Forderung nach Wahlen: Präsidentschaftswahl, Parlamentswahl, Lokalwahlen. Offen bleibt, ob diese Wahlen überhaupt stattfinden können. Wird sich die israelische Armee zumindest aus den Bevölkerungszentren des Westjordanlandes zurückziehen? Wird die direkte und fast tägliche Armeegewalt im Gasastreifen wenigstens für einige Wochen gestoppt? Wird die israelische Regierung den PalästinenserInnen in Jerusalem die Beteiligung an den Wahlen ermöglichen, wie es die israelisch-palästinensischen Osloer Verträge vorsehen? Wird der internationale Druck, aus Europa und vielleicht sogar aus den USA, so stark, dass Israel keine Alternative hat, als diese elementarste aller demokratischen Handlungen zu gestatten? Erste Anzeichen deuten in diese Richtung.

Islamistischer Boykott

Offen bleibt, wer überhaupt an diesen Wahlen teilnimmt: Wird es eine Wiederholung der Konstellation von 1996 geben, also einen Wahlboykott durch die IslamistInnen, oder werden sich Hamas und vielleicht auch der Islamische Dschihad an den Wahlen beteiligen? Wird Hamas sich nur auf lokaler Ebene zur Wahl stellen, oder werden Hamas-Mitglieder auch für das Parlament kandidieren? Nur eine klare Antwort hat es bisher gegeben: Hamas wird für die für den 9. Januar geplante Wahl des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörden keinen Kandidaten aufstellen. Diese Wahl sei, lässt Hamas verlauten, so illegitim wie die gesamten Osloer Verträge.

Und weiter: Wird die Übergangsperiode nach Arafat auch in Zukunft in vorgezeichneten institutionellen Bahnen und damit geordnet und friedlich verlaufen? Oder zeichnen sich mit der Schiesserei bei den Trauerfeierlichkeiten in Gasa Anfang der Woche die ersten Machtkämpfe ab, die auch mit Waffengewalt ausgetragen werden? Schliesslich: Wer sind die AkteurInnen, die Anstalten machen, nun um die Macht zu kämpfen: einzelne politische Führer aus dem Rampenlicht oder aus den Kulissen der Palästinensischen Autonomiebehörden? Die rivalisierenden und untereinander zerstrittenen Sicherheitsapparate und ihre jeweiligen Anführer? Fatah und Hamas?

Derzeit rufen noch alle nach nationaler Einheit. Ungeklärt bleibt, wie diese nationale Einheit realisiert werden kann, jenseits der rituellen Beschwörung eben dieser Einheit. Hier zeichnen sich die Fronten ab: Auf der einen Seite steht Hamas, die neue Institutionen der nationalen Einheit fordert. Die neue Führung, repräsentiert von Mahmud Abbas, hält demgegenüber an der historischen nationalen palästinensischen Institution, der PLO, fest. Dementsprechend fordert sie Hamas zum Eintritt in die PLO auf.

Militärisches Denken

Problematisch in dieser Situation ist das Fehlen von durchsetzungsfähigen politischen Führungspersönlichkeiten. In der Fatah konnten sich diese wegen der alles dominierenden Position Arafats kaum herausbilden. Bei Hamas waren es israelische Bomben, die – als Vergeltung für Selbstmordanschläge – fast die gesamte Führung töteten. Zur Neuverhandlung der künftigen palästinensischen politischen Strategie fehlen politische Köpfe wie der ermordete Hamas-Führer Scheich Ahmed Jassin. Gerade dieser verfügte über die eher seltene Kombination von Charisma und politisch-strategischem Vermögen.

Andererseits könnte gerade das Fehlen von mächtigen neuen politischen Führern die bestehenden Institutionen und die eingespielten Verfahren in und mit diesen Institutionen stärken und kräftigen. Dagegen stellen sich vor allem lokale und regionale Fatah-Chefs. Diese verstehen Widerstand gegen die Besatzung ausschliesslich militärisch und sind nicht so sehr an Institutionen und deren oft schwerfälligem Agieren und Konkurrieren interessiert. Vielmehr fordern sie eine klare hierarchische Führung mit einer dominanten Persönlichkeit an der Spitze.

Die reale Macht

Entscheidend aber ist, dass all die genannten Akteure nicht isoliert auf einer palästinensischen politischen Bühne operieren. Jede einzelne ihrer Äusserungen, Erklärungen und Handlungen ist im Koordinatensystem der israelischen Besatzung, der kolonialistischen Siedlungsaktivitäten und der israelischen Innen- und Aussenpolitik zu verstehen. Und innerhalb dieses Systems wird auf jede Aktion reagiert, wird jede palästinensische Aktion zu einer Reaktion auf eine vorhergehende israelische Aktion. Und Israel hält die Macht in den Händen, militärisch praktisch uneingeschränkt.

Stellt sich Israel dagegen, werden palästinensische Wahlen nicht stattfinden. Macht Israel der neuen palästinensischen Führung unter Mahmud Abbas und Ahmed Kureia eindrucksvolle Zugeständnisse (Rückzug der Armee aus grösseren Teilen des Westjordanlandes, Freilassung palästinensischer Gefangener, Aufhebung des unerträglichen Systems der Strassensperren überall im Westjordanland beispielsweise), hat diese die Chance, sich zu etablieren und die bestehenden Institutionen weiter zu stärken. Bleiben diese Zugeständnisse aus, werden auch Abbas und Kureia ohne die notwendige Autorität bleiben, um strategische politische Optionen zu entwickeln und durchzusetzen.

Das ganze politisch-institutionelle Gefüge der Ära nach Arafat aber steht und fällt mit der Frage des Umgangs mit der so genannten terroristischen Infrastruktur. Wenn Israel bei der Forderung bleibt, die neue palästinensische Führung könne sich nur durch die Zerstörung dieser Infrastruktur bewähren, dann gibt es nicht viel Hoffnung für diese Übergangsperiode. Denn die Umsetzung dieser Forderung hiesse in Palästina Bürgerkrieg: Bürgerkrieg zwischen den Autonomiebehörden und ihren AnhängerInnen auf der einen Seite und Hamas und den BefürworterInnen von militärischem Widerstand gegen die Besatzung auf der anderen Seite.

Helga Baumgarten lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Seit und hat die Biografie «Arafat. Zwischen Kampf und Diplomatie» verfasst (Ullstein Taschenbuch Verlag. Berlin 2002).

Jassir Arafat

Was hat man in den letzten Tagen nicht alles über den Verstorbenen gelesen: Freiheitskämpfer oder unverbesserlicher Terrorist; Mörder oder Mann des politischen Ausgleichs; Politiker mit einer strategischen Mission oder nur ein Schlitzohr; korrupter arabischer Potentat, der sein eigenes Volk und gleichzeitig die EU um Milliarden beraubte, oder Vater der palästinensischen Nation, der bereit war, für jeden einzelnen palästinensischen Bürger Sorge zu tragen, geliebt oder gehasst, bewundert oder verachtet, irrelevant oder der zentrale Akteur im Nahostkonflikt.

Arafat war erfolgreich – und er ist gescheitert. Denn Arafat – und mit ihm die palästinensische Gesellschaft – stand vor Herausforderungen, denen er nicht gewachsen war.

Jassir Arafat und die von ihm mitbegründete Fatah-Bewegung (Nationale Bewegung zur Befreiung Palästinas) schufen aus den palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen des Jahres 1948, des Jahres der Staatsgründung Israels und der palästinensischen «Katastrophe», eine Nation. 1968 nahmen PalästinenserInnen unter Führung der Fatah den bewaffneten Kampf zur Befreiung ihrer Heimat auf. Nur wenige Jahre später, ab etwa 1973, begann Arafat, die PalästinenserInnen weg vom Befreiungskampf für ihre gesamte historische Heimat zu führen. Er konzentrierte sich immer mehr auf die 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, also das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gasastreifen. Parallel dazu rückte die Forderung nach einem palästinensischen Staat in den Vordergrund. 1988, zwanzig Jahre nach Beginn des bewaffneten Kampfes, erhielt Arafat die fast einmütige Zustimmung des palästinensischen Nationalrates, des Parlamentes der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO also, für dieses neue strategische Ziel. Arafat verkündete einen unabhängigen palästinensischen Staat. Nach genau einem Jahr Intifada in den seit 1967 besetzten Gebieten jubelte ihm die dortige Bevölkerung begeistert zu für diesen Entscheid, den sie als den ersten und durchschlagenden Erfolg ihres Aufstandes gegen die Besatzung betrachtete und feierte. Was fehlte, war die praktische Umsetzung dieser Staatsproklamation, war die Anerkennung der PalästinenserInnen und ihrer politischen Ziele durch Israel, durch die Besatzungsmacht.

Erst 1993 und mit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens erhielt Arafat und erhielten die PalästinenserInnen die so lange gesuchte Anerkennung durch Israel. Allerdings war dies nur eine Anerkennung der PLO als der legitimen Vertretung der PalästinenserInnen, nicht eine Anerkennung eines zu schaffenden palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gasastreifen.

Zwar konnten Arafat und sein gesamter PLO-Apparat nun aus dem Exil in die 1967 besetzten Gebiete zurückkehren. Einen Staat aufzubauen, verwehrte ihm aber die israelische Besatzungsmacht. Gleichzeitig schmälerte und zerstückelte die israelische Siedlerbewegung mit ihrer immer offensiveren und vom Staat unterstützten Kolonisation palästinensischen Landes das für einen Staat in Frage kommende Gebiet zusehends. Nach dem Scheitern des zweiten Gipfels zwischen Arafat und dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak in Camp David im Jahr 2000 wurde der Osloer Verhandlungsprozess vollends zerstört, von den Kugeln der israelischen Armeescharfschützen nicht weniger als von den Bombengürteln palästinensischer SelbstmordattentäterInnen.

Arafats Lebensziel eines unabhängigen palästinensischen Staates, in friedlicher Koexistenz mit Israel, unter einer Fatah-Regierung, angeführt von Jassir Arafat, war in unerreichbare Ferne gerückt. Angesichts eines unerbittlichen und übermächtigen Gegners wie Ariel Scharon sah Arafat nur eine mögliche Strategie: aussitzen dieser Ära. Und als Gefangener Scharons in seinem fast völlig von Bulldozern zerstörten Amtssitz, der Mukataa in Ramallah, blieb ihm auch nicht viel anderes übrig.

Gab es Alternativen? Wie hätte Arafat und wie hätte mit ihm die palästinensische Nationalbewegung anders reagieren können? Zu welchem Zeitpunkt hätte er das Ruder herumwerfen können: Im Sommer 2000 in Camp David? Im Dezember 2000, im letzten Monat der Präsidentschaft von Bill Clinton? Bei den Verhandlungen in Taba im Januar 2001? Waren dies die so oft von KritikerInnen angeführten historischen Chancen, die Arafat immer und immer wieder verpasste?

Die palästinensischen KritikerInnen Arafats, die so argumentieren, sind an einer Hand aufzuzählen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung denkt, dass Arafat, nach seinen aus ihrer Sicht viel zu weit reichenden und zu riskanten Kompromissen in Oslo, in Camp David gerade noch rechtzeitig Stopp gesagt habe.Wo aber blieb die politische Führung Arafats in den Jahren der zweiten Intifada, also seit dem Herbst 2000? Das Unabänderliche haben die PalästinenserInnen in den langen Jahren der Besatzung zur Genüge aussitzen müssen. Ihnen fehlte eine klar formulierte Strategie aus der Mukataa: eine Strategie des Widerstands, die nicht nur das Ziel benennt (einen unabhängigen palästinensischen Staat), sondern auch einen Weg zu diesem Ziel. Dazu war der alte Mann in seinem noch verbliebenen Stockwerk innerhalb der Ruinen des vormaligen stolzen Präsidentensitzes nicht mehr fähig.