Mira und Ceylan «Für mich hat Romantik auch etwas von einem Festhalten»

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Illustration von Giulia Spagnulo: zwei Menschen beim Sex im Bett, unter dem Bett versteckt sich eine dritte Person
Illustration: Giulia Spagnulo

Alles eine Frage der Perspektive: «Entweder ist in meinem Leben sehr vieles romantisch oder gar nichts.» Mit manchen Personen teilt Mira, 33, sexuelle Fantasien und führt Gespräche darüber, welche davon wie ausgelebt werden. Mit anderen verbindet sie emotionale Intimität, wobei es sich dabei explizit um platonische Freundschaften handelt. Diese Beziehungen sind in Miras Augen viel romantischer als ihre sexuellen Beziehungen. Sie verliebt sich schnell, auch in Freund:innen. «Wenn das Romantische das ist, ‹Wir gegen den Rest der Welt›, kann ich mich innert Sekunden verlieben, in viele Personen, aber es hält oft nicht so lang.»

Ceylan, 34, dagegen lebt seit zwei Jahren mit Etienne in einer festen Beziehung, die offen für Sex mit anderen ist. Sie sieht sich eher als monogam. Mit Mira verbindet sie eine Freundschaft, aber auch ihre BDSM-Praxis. Beide sind starke Persönlichkeiten, sie strahlen aus, dass sie genau wissen, was sie wollen. Und sie denken viel darüber nach, was Beziehungen sind, was sie leisten und wie sie an Qualität gewinnen können. Es verbindet sie aber auch, dass sie religiös erzogen wurden mit sehr klaren Vorstellungen davon, wie sich eine Frau sexuell zu verhalten habe.

Mira hat Sexualität nicht im Rahmen einer festen Beziehung kennengelernt. Als weiblich sozialisierter Teenager war man eine «Slut», wenn man Sex ausserhalb einer solchen Bindung hatte. Deshalb war sie damals sehr vorsichtig, mit wem sie schlief, und achtete darauf, dass die Beteiligten nicht voneinander erfuhren. Sie merkte schnell, dass sie gut darin ist, verschiedene Rollen zu spielen. So lernte sie für ein Date etwas Russisch, um eine russische Herkunft vorzutäuschen. «Ich merkte plötzlich: Ich kann alles sein, was ich will, die Menschen mögen oft ohnehin lieber gute Geschichten als die Realität.»

Die BDSM-Praxis leitet Mira und Ceylan auf verspielte Weise von jugendlicher Blauäugigkeit, in der vieles unbewusst geschieht, zu Konsens und bewussten Entscheidungen. Bei Mira haben insbesondere Sexpartys in London diesen Wandel herbeigeführt. Sie wirken horizonterweiternd für sie, die Begegnungen sind ebenso schmerzvoll wie zärtlich. Sie fühlt sich willkommen, so wie sie ist, mit jeder Vorliebe, die sie mitbringen mag.

Ceylan sagt von sich, sie sei in ihre Sexualität hineingewachsen, ohne genau zu wissen, was sie wolle und was nicht. Sie probiert vieles aus. Hat aber immer die Vorstellung, dass Sex – wenn man wirklich verliebt ist – etwas sein muss, bei dem man ineinander verschmilzt, sich auflöst, eins wird. BDSM befreit sie von dieser Vorstellung. Etienne datet sie zunächst, weil sie sich für seine BDSM-Praxis interessiert, aus reiner Neugier. «Dadurch, dass man sich in dieses Spiel begibt, lernt man genau, was man möchte. Es gibt einen klaren Rahmen, eine klare Verhandlung, und das verleiht mir eine enorme Sicherheit.»

Auch für Mira hat BDSM viel mit Vertrauen zu tun, es ist ein Ausloten von Grenzen der Lust und des Schmerzes. «Ich finde das magisch: Du musst so sehr im Moment sein, es gibt keinen Platz dafür, an etwas anderes zu denken.» Ceylan beschreibt genau das als zentralen Teil ihres Begehrens: «Als Sub gibst du die Kontrolle komplett ab, und es macht mir grosse Lust, dass sich eine Person vollkommen mit mir beschäftigt.» Mira ergänzt: «Der Moment, in dem du zum Beispiel beim Fesseln deine Hände hinhältst, ist enorm aufgeladen und intim.»

BDSM kann auch absurd, leicht und komisch sein. Nur schon der Austausch über Fantasien. Zugleich verhandelt man darin auch Anteile von sich. So etwa wurde sich Ceylan über einen Aspekt ihrer Sexualität bewusst, der mit ihrer konservativen Herkunft zu tun hat: mit dem Schuldgefühl aufgrund des Auslebens von Sexualität ausserhalb der Ehe. «Ich habe mich gefragt, warum ich mich so befreit fühle. Irgendwann bin ich darauf gekommen: Ich bin nicht schuld.» Wenn sie gefesselt werde, befreie sie das, denn dabei gebe sie die Verantwortung für das ab, was geschieht.

BDSM hilft Ceylan gegen die Eifersucht. Auch dank ihrer Geschichte mit Etienne erkennt sie BDSM als ein sehr spezifisches Bedürfnis, das ausserhalb ihrer romantischen Beziehung existieren kann – und keine Bedrohung dafür darstellt. Trotzdem vermischt sich das Gefühl von Romantik manchmal mit ihrer sexuellen Praxis. Eines Tages äussert Etienne den Wunsch, BDSM auch in den Alltag zu integrieren. Er kauft ihr eine goldene Fusskette, Ceylan freut sich über sein Geschenk, worüber er irritiert ist: «Er sagte, das wäre der Moment in unserer Beziehung, in dem er mir gerne ein romantisches Geschenk machen würde, aber das hier sei nur ein Spiel.»

Ceylan ist im ersten Moment enttäuscht, und es entwickelt sich ein Gespräch über die Funktion von romantischen Schmuckstücken. Darüber, wie sehr zum Beispiel der Ehering ein Zeichen von Besitz sein kann – und wie auch das Ablegen davon symbolisch aufgeladen ist. Im Spiel geht es genau darum: Er darf bestimmen, wann sie das Schmuckstück ablegen darf. Das Spiel macht Ceylan Spass, und so verschiebt sich ihr Koordinatensystem von romantischen Zeichen: «Ich erlebe Romantik mehr und mehr als eine Projektion; zwei Projektionen können komplett aneinander vorbeizielen. Die andere Person empfand den Sonnenuntergang vielleicht als gar nicht so romantisch wie du, findet es aber im Gegensatz zu dir wiederum superromantisch, wie man zusammen den Aschenbecher im Brockenhaus angesehen hat.»

«Für mich hat Romantik auch etwas von einem Festhalten», sagt Mira. «Die Prinzessin hinter den Dornen, die man um jeden Preis erreichen muss, dieses Gefühl des ‹Es muss doch irgendwie gehen›.» Sie berichtet von einer Trennung: Eine Person, mit der sie intensive BDSM-Erlebnisse geteilt hatte, beendete die Beziehung, weil sie keinen Platz mehr dafür hatte. «Es gab nichts zu diskutieren, auch wenn da sehr klar Liebe zwischen uns war.» Sie selbst glühte und wusste, es hätte zwischen ihnen ein Feuerwerk geben können. Also genoss sie ein kleineres Feuerwerk nur für sich selbst.