Sade und Silas «Warum nur müssen wir immer beweisen, dass wir ein ‹worthy couple› sind?»

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Illustration von Giulia Spagnulo: drei Menschen im Bad berühren sich gegenseitig
Illustration: Giulia Spagnulo

«Er sagte: ‹Wenn du wegen mir nicht gehst, ist das nicht die Beziehung, die ich mir wünsche.›» Sade ist 21, als sie zum Szenografiestudium nach Brasilien auswandert. Wenige Monate zuvor hat sie Silas, 28, DJ und Schlagzeuger, kennengelernt. «Ich wusste, wenn ich es wirklich ernst meine mit ihr, muss ich sie darin bestärken zu gehen», sagt er.

Für beide ist klar, dass es eine lange Zeit sein wird, in der gelebt und geliebt werden will. Sie wollen sich darin nicht beschneiden. Sie bleiben eng, sehen sich im Videochat, drücken gleichzeitig auf Play, um gemeinsam Filme zu schauen. Eines Nachts plagt Sade ein seltsames Gefühl, sieben Mal versucht sie, Silas telefonisch zu erreichen. Tatsächlich gibt er am nächsten Tag zu, dass er etwas mit jemand anderem hatte. «Es war dann aber gar nicht so schlimm», sagt Sade.

Das Studium gefällt ihr nicht, sie kehrt nach einem Jahr zurück – auch zurück zu Silas, in eine monogame Beziehung. Sie öffnen ihre Beziehung ohne grosse Diskussion wieder, als Silas eine Reise nach Mexiko plant und Sade anschliessend für ein Austauschsemester nach Brüssel zieht. Dort verliebt sie sich in Malik, erzählt es Silas aber erst viel zu spät. «Es war für mich überhaupt keine Frage, dass ich mit Silas zusammenbleiben will. Aber es war der Moment, in dem wir wirklich anfangen mussten, uns mit unserer Beziehung auseinanderzusetzen.»

Als Silas sie in Brüssel besucht, schreibt er Malik ein Mail, in dem er sich innerhalb dieser Situation zwar als unbeholfen bezeichnet, zugleich aber seine guten Absichten ausdrückt. Sie seien alle neu in diesem Verhältnis, und er wünsche sich ein achtsames Zusammenkommen. Auch Malik hat keine Besitzansprüche, sowieso hat Sade auch weitere Liebschaften. Beim gemeinsamen Clubben sagt Silas zu Sade, er sei voller zärtlicher Gefühle für Malik. Die beiden Jungs mögen sich, treffen sich auch zu zweit. «Ich bekam von Anfang an so viel Liebe und Bestätigung von Sade, das machte es einfach für mich», sagt Silas.

Sie haben auch ihre «bumpy roads». Silas verliebt sich in Lana, die sich immer mehr eine monogame Beziehung mit ihm wünscht. Für Silas ist es eine unerträgliche Entscheidung. Nach drei Wochen Rückzug im Ausland steigt er in den Flixbus nach Brüssel, beendet die Beziehung zu Sade und fährt wieder zurück in die Schweiz. Dort weht aber schon ein anderer Wind, Lana hat sich in der Zwischenzeit auf jemand anderes eingelassen. Silas geht es sehr schlecht, Sade auch. Es vergeht ein Jahr, bis sie wieder zusammenfinden.

«An einer Beziehung arbeitet man, man macht nicht einfach Schluss», sagt Sade. Und an Silas gerichtet: «Ich war der Meinung, wir handeln das alle zusammen aus, ich und du mit Malik, mit Lana. Niemand muss Schluss machen, wenn wir uns alle lieben. Du aber hast aufgehört, daran zu arbeiten, das war das Schlimmste für mich.»

Silas rechnet es Sade bis heute hoch an, dass sie ihm verziehen hat: «Ich finde es schön, dass jemand in einer Beziehung sagen kann: ‹Wir sind übrigens noch nicht fertig.› Das hat etwas mit Sades emotionaler Grundausstattung zu tun: In Verbindung bleiben ist eine grosse Stärke von ihr.»

Heute sind die beiden seit zwölf Jahren ein Paar, haben ein dreijähriges Kind und sind in einer neuen Phase angelangt. Lange war es für die beiden einfacher, sich als Hauptbeziehung zu sehen und ihr Beziehungsgeflecht nicht unbedingt mit der Öffentlichkeit oder im Freundeskreis zu teilen. Mittlerweile hat auch ihr Umfeld ein ähnliches Verständnis. «Es ging uns nie darum, möglichst viele Personen zu daten. Wir haben uns auch beide nie mit einer Polyszene identifiziert», sagt Sade. «Ich finde es einfach schade, Menschen nicht in ihrem gesamten Potenzial zu begegnen, sondern sich von vornherein zu begrenzen.» Silas will sich klar von einem Polyhedonismus distanzieren, ihre Beziehungsform sei viel pragmatischer als das und weniger ideologisch. Er sehe bei vielen Paaren, wie sie als Übergang in eine Trennung ihre Beziehung öffneten. Bei ihm sei das Gegenteil der Fall: Auf etwas Neues könne er sich nur noch einlassen, wenn er sich mit Sade sicher fühle.

Beide können sich mittlerweile andere Hauptbeziehungen vorstellen, sogar ein weiteres Kind mit einer anderen Person. Da vor allem Sade den Kinderwunsch hat, diskutieren sie diese Möglichkeit. Die Mutter von Silas ermutigte sie sogar einmal dazu, um im nächsten Moment die Sorge zu äussern, dass es für Daya, ihr gemeinsames Kind, schwierig sein könnte, wenn sie nicht mehr zusammen wären. «Das hat mich so genervt», sagt Sade: «Wir sind seit zwölf Jahren zusammen. Ich kann gar nicht aufzählen, wie viele unterschiedliche Beziehungen wir gleichzeitig hatten und wie unterschiedlich unsere eigene Beziehung schon war. Warum müssen wir immer beweisen, dass wir ein ‹worthy couple› sind, nur weil wir nicht nur miteinander sind?»

Eine Zeit lang sehen sie viel Politisches in ihrer Beziehungsform, sprechen über Konstrukte und Ideen, lesen Bücher. Mittlerweile finden sie die Vorstellung etwas überholt, Polyamorie könnte ein revolutionäres Potenzial bergen. Gerade für Silas stellen sich viele Fragen: «Willst du wirklich so viel Zeit und Ressourcen auf diese Arbeit verwenden?» Er fragt sich manchmal, ob es in Polykreisen nicht oft einfach um die Selbstbeweihräucherung einer Community gehe. «So sehr man auch behauptet, Nichtmonogamie sei ein Zündfunke für andere Gesellschaftsformen – im Alltag gehen deine ganzen Ressourcen dann doch nur in Beziehungen. Diese hätten auch anders genutzt werden können, zum Beispiel für eine politische Revolution.»