Zermatt: Ein Hotelier auf Zimmer 308

Nr. 52 –

Das ist die Geschichte des Hoteliers Jürg Biner, der den Zermatter Filz herausforderte und dem dabei sein altes Leben abhanden kam: Frau, Vermögen, Hotel.


Von Visp zuckelt die Bahn in einer Stunde hoch nach Zermatt. Sie befördert ihre Gäste entlang den abschüssigen Flanken des Mattertales, über schattige Schründe, hinauf über Geländerampen, vorbei an Dörfern und Weilern, die poetische Namen tragen wie Mattsand und Randa. Dazwischen nichts als Stein, Schnee und Nadelwald. Eine schimmernde Glasur liegt jetzt im Dezember auf dem wilden Land. Unten verschluckt steiniger Untergrund die gurgelnde Matter Vispa, oben lassen Felsgiganten selbst den Himmel hinter sich.

An der Endstation strebt ohnehin alles in schwindelerregende Höhen: die Viertausender, der Zweitwohnungsbau und der Reichtum. Wer im «Weltkurort» Boden besitzt, wacht bei Quadratmeterpreisen zwischen 2000 und 3000 Franken eines Morgens als Millionär auf. The winner takes it all. Diesen Traum träumen viele in Zermatt. Seit das Kapital an den Börsen nicht mehr ordentlich kalbt, gehen die Reichen dieser Welt an mondänen Orten wie Verbier oder Gstaad in Immobilien. Keine Ausnahme bildet da Zermatt, wo die Einwohnerzahl im Winter von 6000 auf 35 000 schnellt und nicht nur die Aussichten aufs Matterhorn atemberaubend sind, sondern auch die Preise der Uhren in den Auslagen der Bijoutiers.

Der Skiakrobat

Auch Jürg Biner war ein Winner, ehe der bürgerliche Boden unter ihm wegbrach und sein altes Leben mit sich riss. Als Skiakrobat stürzte er sich in den achtziger und neunziger Jahren die Buckelpisten hinunter und krönte sein Sportlerleben mit dem Vizeweltmeistertitel. Im Amphitheater der Zermatter Bergriesen feiert den Spross einer alteingesessenen Familie inzwischen niemand mehr. Selbst Freunde wie der Bergführer Mario Julen und hilfsbereite Verwandte werden nicht ganz schlau aus Biner Jürg, der vieles sein mag, aber bestimmt kein Dummkopf. Immerhin studierte er an der Uni Freiburg einige Semester Ökonomie.

Wegen einer Lieferantenrechnung von 8000 Franken kam alles ins Rutschen. Die hätte der ehemalige Mieter seines Hotels bezahlen sollen, so Biner, und nicht er. Trotz eindringlicher Bitten beglich er sie nicht. Man habe ihm den Zahlungsbefehl nicht persönlich zugestellt, ihm die Neuansetzung der Frist verweigert, weshalb er keinen Rechtsvorschlag habe erheben können. Um der Gerechtigkeit willen nahm er im Mai den Konkurs in Kauf, der unlängst in der Zwangsversteigerung des Hotels gipfelte. Jürg Biner verlor dabei nicht nur sein Vermögen und sein 78-Betten-Hotel – er bleibt jetzt zurück mit Forderungen von beinahe zwei Millionen Franken und ohne seine Frau, die ihn mit den kleinen Töchtern bereits vor Monaten verliess. Das ist der Preis seiner Rebellion.

Diese Geschichte handelt nicht nur von Gerechtigkeit. Denn Jürg Biner ist getrieben von einer Mission: Er will «das System» sichtbar machen und den Hunger der einfachen Menschen nach Redlichkeit stillen. Schliesslich jagt das Zermatter Establishment bloss dem schnellen Geld nach. Die Behörden dienen im Zweifelsfall den Reichen. Zermatt erstickt an sich selbst. Sagt Jürg Biner. Ganz ruhig, sehr bestimmt sagt er es. Und mit einem Flackern im Blick.

Unangenehme Fragen

Der Hotelier, der manche Arbeitsgruppe zur Zukunft des Kurortes leitete, strebte einen nachhaltigen Tourismus an. Gegen den überbordenden Zweitwohnungsbau, über den angeblich keine Zahlen existieren, wie der Gemeindepräsident Christoph Bürgin der WOZ ausrichtet. Jürg Biner sah seine Bestrebungen abgeblockt von den etablierten Kräften. Und so löchert er, der sechs Jahre Zermatt Tourismus präsidierte, seit mehr als einem Jahr die Behörden mit Fragen. In seinem Blog prangert er den Filz an. Weshalb arbeitet die Betonanlage der Imboden AG am Eingang des Dorfes seit vierzehn Jahren ohne Bau- und Betriebsbewilligung? Warum nimmt es der Gemeinderat mit den Bauabständen und Ausnützungsziffern nicht besonders genau? Jürg Biner hat bis heute keine Antwort erhalten.

Das Walliser Oppositionsblatt «Rote Anneliese» griff den Fall unlängst auf und konfrontierte Gemeindepräsident Christoph Bürgin damit. Selbst der Gemeindepräsident, auch er Hotelier, hat Grenzabstände nicht eingehalten. «Selbstverständlich» trat er in den Ausstand, als ihm der Gemeinderat die Absolution erteilte wie so vielen anderen auch. Die Imboden AG betreibt ihre Betonanlage tatsächlich seit Jahren ohne Bewilligung. Aber was kann der Gemeinderat dafür? Das geschah schliesslich unter den Vorgängern. Mittlerweile hat sich die Firma übrigens bequemt, ein Gesuch nachzureichen. Bemerkenswert auch, dass die kantonale Aufsichtsbehörde dem Treiben keinen Riegel vorschob.

Bei Biner Jürg nahmen es die Gemeindebehörden hingegen besonders genau: Sie schlossen das Hotel im Sommer wegen eines mangelhaften Erdbebengutachtens. Fünfzehn Angestellte standen Mitte Juli auf der Strasse. Der Brief mit dem Entscheid wurde Jürg Biner zugestellt, als er ferienhalber in England war. Absicht, sagt er. Rache, behauptet er. Und als er zurück in Zermatt war und vom Gemeindepräsidenten per SMS eine Aussprache verlangte, fühlte sich Bürgin Christoph bedroht. Statt einer Erklärung schickte der Gemeindepräsident drei Polizisten mit «geladenen Pistolen und kugelsicheren Westen». Sie führten Jürg Biner zunächst auf den Polizeiposten in Zermatt und dann sperrten sie ihn in eine Zelle in Brig. Drei Tage blieb er in Untersuchungshaft. Während er eine Bedrohung des Gemeindepräsidenten bestreitet, schweigt jener mit Hinweis auf das laufende Verfahren.

Ein Mann verändert sich

Über dem Matterhorn tobt ein Sturm, ein Schneeschleier stäubt in den eisblauen Himmel. Unten in Zermatt inszeniert das Schweizer Fernsehen kurz vor der Zwangsversteigerung Biners Auftritt. Mit erhobenem Haupt, den Blick in die Ferne gerichtet, befolgt er die Anweisungen der Fernsehjournalistin. Er macht einige Schritte die Bahnhofstrasse hoch, eigentlich treibt er mehr im Gewühl der Strasse, als dass er geht. Das Auge der Kamera folgt einem dünnen, langen Mann in Röhrchenjeans. Das hagere Gesicht umkränzt ein Bart. Dieser Mann erscheint als eine Mischung aus dem Jesus, der die Händler aus dem Tempel vertrieb, und jenem Che Guevara, der einen aussichtslosen Kampf im bolivianischen Regenwald focht.

Seine Mission hat Jürg Biner verändert. Die Fotografie auf seinem Blog zeigt einen anderen Mann. Klare Augen schauen aus einem kantigen Gesicht, der Kopf sitzt auf einem muskulösen Hals. Jürg Biner lächelt selbstgewiss. Er lächelt auch jetzt, aber jetzt lächelt er anders. Die Journalistin fragt: «In einer halben Stunde kommt Ihr Hotel unter den Hammer. Wie fühlen Sie sich?» «Ich bin gelassen», antwortet er. Die Hotelschliessung bezeichnet er als illegal. Die Behörden seien schuld an fünfzehn Arbeitslosen. Und sie hätten mit der Schliessung den Absturz erst ausgelöst. Er konnte zu jenem Zeitpunkt eine Liquidität von 250 000 Franken und hohe Debitorenbeträge ausweisen. Noch hofft er, dass die Bank das Hotel ersteigert und er es wieder zurückkaufen kann. Eine schöne Hoffnung, die sich zerschlägt, sobald andere mitbieten.

Im Alexander-Seiler-Saal des Hotels Mont Cervin Palace sitzen am Donnerstag, 10. Dezember, kurz vor 14 Uhr etwa siebzig Frauen und Männer und unterhalten sich gedämpft, als befänden sie sich in einer Kirche. Freunde und Verwandte Biners haben Rettungspläne ausgeheckt und Geld organisiert. Aber das will im Fall von Jürg Biner nichts heissen. Denn er bestimmt, wer ihm helfen darf und vor allem wie. Jetzt lehnt er an einer Säule, die Hände in den Hosentaschen, und beobachtet beiläufig die Menschen, während er alle Blicke auf sich zieht. Dann waltet Klemens Lengen seines Amtes. Der Chef des Konkursamtes in Visp versucht den möglichen BieterInnen den Mund wässrig zu machen und ist voll des Lobes über den Traditionsbetrieb, den Ivo und Annemarie Biner ab 1961 erfolgreich führten. Der Sohn entwickelte das Hotel weiter, er investierte im Laufe der Jahre elf Millionen Franken, er machte aus dem Dreisterne- einen Viersternebetrieb und ein Biohotel, er baute den Wellnessbereich aus. Die Übernachtungszahlen und die Umsätze konnten sich sehen lassen. In der Saison 2007/08 waren es 20 339 Logiernächte und ein Umsatz von 3,3 Millionen Franken.

Vor der Versteigerung ergreift Jürg Biner das Wort. Er fordert die Leute auf, das Hotel nicht zu kaufen. «Sie hätten die nächsten vierzig Jahre meine erb- und mittellosen Kinder vor Augen.» Er spricht von mafiösen Machenschaften. Es gebe eine einzige Instanz, welche die Pflicht habe, ein Angebot zu machen, und das sei die Bank. «Sollten andere das Hotel ersteigern, werden sie sich rechtlich, familiär und sozial mit mir auseinandersetzen müssen.» Der väterliche Klemens Lengen fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Er geht Ende Jahr in Pension. Aber ein solcher Fall ist ihm noch nicht untergekommen. Biner Jürg tut ihm leid. Er hat ihm noch am Vorabend der Konkurseröffnung telefoniert und ihn aufgefordert: «Komm morgen mit 8000 Franken, und der Fall ist erledigt.» Es half nichts. Der Hotelier hat zwar das Konkursdekret durch alle Instanzen angefochten. Aber er ist an Formfehlern gescheitert. Denn ein Jürg Biner kämpft seinen Kampf ohne Anwalt. Er fuhr selbst nach Lausanne zum Bundesgericht, schrieb dort seine Beschwerde und scheiterte an einem Formfehler.

Jetzt also ist es so weit. Das Hotel steht bei Forderungen und Schulden von mittlerweile 9,3 Millionen mit 8,68 Millionen Franken zu Gebote. Ein Anwalt in grauem Anzug bietet für die Hotelkette Sunstar Holding AG 7 Millionen Franken. Und erhält schliesslich für 7,5 Millionen den Zuschlag, ein Schnäppchen. Jürg Biner zeigt danach auf den Anwalt: «Das ist kein guter Mensch, die Welt ist nicht gut, das ist leider eine Realität.»

Der Hotelbesetzer

Jetzt ist Jürg Biner nicht mehr Hotelbesitzer, jetzt ist er Hotelbesetzer. Der 45-Jährige lehnt an der Bar seines Hotels, das ihm seit einer Stunde nicht mehr gehört. Er zog nach der Schliessung im August wieder hier ein. Es riecht nach kaltem Rauch. Derzeit belegt er Zimmer 308, mit Blick aufs Matterhorn. Statt die Bettwäsche zu waschen, wechselt er das Zimmer. Jürg Biner sieht das Hotel bloss noch als Symbol seines Kampfes für mehr Redlichkeit. Existenzängste plagen ihn angeblich nicht mehr. «Total zentriert» sei er und nicht mehr so emotional wie früher. «Das Hotel gehört innerlich immer noch mir, ich kämpfe, bis der alte Zustand wieder hergestellt ist.» Nur als die Rede auf seinen Vater kommt, wird er kleinlaut: «Zum Glück hat er das nicht mehr erlebt.» Der Vater war Hotelier, Bergbahnpionier, Gemeinderat und Museumsmäzen.

Im Grunde dreht sich diese Geschichte längst nicht mehr um Fragen des Rechts. Wer tanzt hier eigentlich auf dem Vulkan? Jene, die dem schnellen Geld nachjagen? Oder Jürg Biner, der sich ein anderes Zermatt wünscht und darauf beharrt, dass seinen vier Kindern und ihm gehört, was er sich erarbeitet hat? Mittlerweile ist eine seiner Töchter von der Grossmutter, die nebenan wohnt, zum Papa gestossen. Selbstvergessen sitzt sie vor einer Grossleinwand, über die Comicfiguren purzeln. In diesem Film erscheint der rosarote Panther grau.