Pop: Schöner als Chemtrails

Nr. 36 –

Eintauchen, abheben: Slowdive waren immer die verträumtesten im Dunstkreis namens Shoegaze. Ihr neues Album ist latent langweilig, aber auf die allerschönste Weise.

Bandfoto von Slowdive
Notorisch textfaul, aber von federleichter Schwermut: Slowdive. Foto: Ingrid Pop

Wenn jetzt Kurt Cobain noch am Leben und heute wieder mit seiner epochalen Grungeband Nirvana unterwegs wäre: Würde deren Schlagzeuger Dave Grohl auf offiziellen Bandfotos auch ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Grunge» tragen? Und wäre das nicht auch ziemlich, wie das heute heisst, cringe?

So ähnlich zeigt sich jetzt nämlich Simon Scott, der Schlagzeuger der britischen Band Slowdive. Auf manchen aktuellen Bandfotos trägt er tatsächlich ein T-Shirt, auf dem in grossen Lettern steht: «shoegazer».

Es ist einer der kurioseren Stilbegriffe im Popjargon, aber auch einer, der unmittelbar einleuchtet mit dem Bild, das er transportiert. «Shoegazer», das sind solche, die auf der Bühne keine grossen Tänze machen, sondern scheinbar dauernd auf ihre Schuhe starren – dabei haben sie bloss die zahllosen miteinander verschalteten Effektpedale im Blick, die zu ihren Füssen aufgereiht sind und aus denen sie den spezifisch verhallten Sound für ihre Gitarren ziehen. Geprägt haben den Begriff angeblich die britischen Musikzeitschriften «Sounds» und «New Musical Express», ausgehend von Gitarrenbands wie Ride oder My Bloody Valentine, die eben diese Vorliebe für verwaschene Klangfarben teilten.

Neben Ride mit ihren treibenden Sixtiesharmonien und den lärmigen Schlieren von My Bloody Valentine waren Slowdive immer die verträumtesten im kurzlebigen Shoegaze-Dunstkreis der frühen neunziger Jahre. Mit ihrem dritten Album dann träumten sie sich raus aus der Schublade und rein in eine Sackgasse. Das Label liess sie fallen, 1995 war vorläufig Schluss. Auch Shoegaze als Stilbegriff schien damals schnell wieder vergessen und überholt, weggeblasen von den griffigeren Hymnen von Blur und Oasis, Stichwort «Britpop».

Der Gitarrist im Bioladen

Songschreiber Neil Halstead und Sängerin Rachel Goswell machten daraufhin mit Mojave 3 weiter, wo sie sich in einem etwas gemütlicheren Folkrock einrichteten – bis sie irgendwann doch wieder von Shoegaze eingeholt wurden. Bei der Reunion von Slowdive vor bald zehn Jahren war es dann Gitarrist Christian Savill, der die schöne Anekdote parat hatte, dass ihm der weitreichende Einfluss, den die Band in ihrem kurzen ersten Leben gehabt habe, erst sehr viel später richtig klar geworden sei. 2008 in die USA gezogen, habe er dort in einem Bioladen gearbeitet, und da hätten ihn immer wieder junge Leute gefragt, ob es wahr sei, dass er seinerzeit bei Slowdive dabei gewesen sei.

Das haben die Revivalzyklen im Pop so an sich, dass sie manchen ein zweites Leben schenken. Dass eine Band aber 22 Jahre nach ihrer Auflösung mit einem phänomenalen Album nahtlos an damals anknüpft, ohne dass der Eindruck entsteht, hier müsse vor allem ein Erbe verwaltet werden: Das ist doch selten genug.

Einfach «Slowdive» (2017) hatten sie dieses wuchtige Album betitelt, so lapidar, als wärs nochmals ein Debüt – aber eben auch mit dem stolzen Bewusstsein für den Nimbus, den der Bandname in der Zwischenzeit erlangt hatte. Und jetzt also: Album Nummer fünf. Der Titel nochmals ähnlich lapidar, aber diesmal irgendwie kitschverdächtig: «Everything Is Alive».

Flächen, die atmen

Alles lebt? Das gilt auch für die verhallten Ebenen, aus denen Slowdive ihre raumgreifenden Songs bauen. Alles sehr flächig hier, aber alles atmet. Schon an zweiter Stelle folgt ein ungemein zartes Instrumentalstück («Prayer Remembered»), bei dem man nur staunen kann, wie traurig ein Popsong ohne Gesang sein kann. Später dann die Single «Kisses», federleichte Schwermut, ein leiser Hit für die Ewigkeit. Auch sonst ist alles feiner und schwebender als zuletzt auf «Slowdive», aber tendenziell auch: naiver. Das ist nicht ohne Risiko, denn was so simpel daherkommt, kann jederzeit kippen (und manchmal tut es das auch). Da lauert dann das sphärische Meditationsdesign oder, schlimmer vielleicht, die Gebrauchsmusik wie für die Mobilfunkwerbung.

Nein, rasend spannend ist das nicht, aber wenn latent langweilig, dann auf die allerschönste Weise. Und auch diesmal versteht man oft gar nicht, was Neil Halstead oder Rachel Goswell eigentlich singen. Notorisch textfaul waren Slowdive schon damals, aber auch das war seit je ein Kennzeichen von Shoegaze: Der Gesang wurde gerne weit nach hinten gemischt, einfach eine Fläche mehr im Hallraum.

Manchen galt Shoegaze darum immer schon als leer und ohne Substanz, flüchtig wie der Kondensstreifen im gleichnamigen Titel von Ride: «Vapour Trail» von 1990, in jeder Hinsicht ein emblematischer früher Shoegaze-Song. Wobei Ride den Vorwurf der Leere prompt aufgriffen, indem sie ihn als programmatische Ansage zum Titel ihres grandiosen zweiten Albums machten: «Going Blank Again» (1992).

Verhallt, verstrahlt, aber nicht viel zu sagen? Kann man so sehen, doch das bewahrte Shoegaze-Bands wie Slowdive damals auch vor der politischen Vereinnahmung, die dann ihre erfolgreicheren Kollegen ereilen sollte: Während Blur und Oasis mit ihrem Britpop zur Speerspitze von «Cool Britannia» und damit zu Botschaftern von Tony Blairs New Labour gemacht wurden, hatte sich der Kondensstreifen namens Shoegaze ja schon wieder aufgelöst.

Album-Cover «Everything Is Alive» von Slowdive
Slowdive: «Everything Is Alive». Dead Oceans / Cargo Records. 2023.