Türkisches Tagebuch: … der Narr kämmt sich das Haar

Nr. 51 –

Ece Temelkuran über Routinen und Eröffnungsfeiern

18. Dezember: «Das Dorf steht in Flammen, und der Narr kämmt sich das Haar»: Auch wenn dieses Sprichwort auf Deutsch wenig Sinn ergeben mag, gibt es in diesen Tagen des Schreckens wohl keinen treffenderen Ausdruck für den Zustand der türkischen Regierung.

Nach dem gestrigen Anschlag in Kayseri hat in der Türkei die immer gleiche ärgerliche Routine begonnen: Auf den Schock folgte die Nachrichtensperre, angereichert mit Rufen nach nationaler Einheit. Dann kam das übliche Statement des Präsidenten, das den Social-Media-Trollen den Weg ebnet, alle ins Visier zu nehmen, die es wagen, die Handlungen der Regierung infrage zu stellen. Und selbstverständlich erfolgte am nächsten Tag der zweite Teil der üblichen Routine, untrennbar mit dem ersten vereint: eine spektakuläre Eröffnungszeremonie, um den Ernst der Lage abzuschütteln. Diesmal ist das Fussballstadion in Trabzon eröffnet worden. Nur einen Tag nachdem 14 Soldaten getötet und 56 schwer verletzt wurden, begeht Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Feuerwerk und anderen Feierlichkeiten die Eröffnung gemeinsam mit dem Scheich von Katar.

Nach dem Anschlag fordern die Spindoktoren der AKP, inklusive der Minister, auf Twitter zur Rache an den KurdInnen auf. Verantwortung übernommen hatten die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), eine Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ihre Tat liefert eine wunderbare Ausrede, um Ultranationalisten und AKP-Anhängerinnen gegen die prokurdische HDP zu mobilisieren. Im Verlauf des Tages und in der darauffolgenden Nacht attackieren AKP-AnhängerInnen in diversen Städten die Büros der Partei, brennen die Gebäude nieder und plündern. In den sozialen Medien macht das Wort «Kristallnacht» die Runde. Der Innenminister beantwortet unterdessen keine Anrufe von HDP-Mitgliedern.

Derweil mobilisieren regierungsnahe Medien AnhängerInnen der AKP, gegen Russlands Bomben auf Aleppo auf die Strasse zu gehen. Sie demonstrieren – obwohl im Ausnahmezustand eigentlich alle Demonstrationen verboten sind – vor der russischen Botschaft. Natürlich stört sie die Polizei dabei nicht.

19. Dezember: Der russische Botschafter wird von einem Polizisten erschossen, als er die Eröffnung einer Kunstausstellung in Ankara besucht. Der Angreifer skandiert Slogans der Al-Nusra-Front – einer islamistischen Gruppierung, die von der türkischen Regierung in Syrien unterstützt wird. Die Kacke ist richtig am Dampfen – und bedauerlicherweise müssen diejenigen sie nun ausbaden, die keines der Bücher von Leo Tolstoi gelesen haben und sich deshalb der Ernsthaftigkeit der Lage gar nicht bewusst sind.

Erdogans berüchtigter Chefberater, der auch die neue Verfassung geschrieben hat, die wohl bald zur Abstimmung kommt, gibt Minuten nach dem Anschlag ein weiteres irres Statement ab. «Wir mögen vielleicht bei der Sicherheit versagt haben, aber warum hatte der russische Botschafter eigentlich keinen eigenen Bodyguard?», fragt er. Die Regierung ist daran gewöhnt, Situationen wie diese zu lösen, indem sie die Schuld erst auf andere abwälzt und dann irgendeine Feier veranstaltet, um alle vergessen zu lassen, was geschehen ist. Aber mit den Russen funktioniert diese Taktik nicht. In diesem Fall wird der russische Geheimdienst die Untersuchung leiten.

20. Dezember: Vor ein paar Tagen haben die AnhängerInnen der AKP noch gegen russische Bomben auf Aleppo protestiert. Nun organisieren sie sich auf Twitter, um sich vor der russischen Botschaft zu versammeln und ihr Beileid auszusprechen. Die Eröffnungszeremonie für den Eurasientunnel unter dem Bosporus wird nicht abgesagt. Manche sagen, der Anschlag könnte den Beginn des Dritten Weltkriegs markieren. Und der Narr kämmt sich das Haar derart gelassen, wie nur ein Narr es vermag.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.